Das schöne Mädchen von Falk Osterloh Veröffentlicht 2006 in der Anthologie „Rote Schuhe“ im Holzheimer Verlag  Als Anna erwachte, war es noch dunkel. Das Atmen ihrer Brüder klang wie das Rauschen der Wellen, gleichmäßig und sanft. Der Traum lag noch warm über ihren Augen. Die Kameras klickten, die Zuschauer applaudierten, sie verneigte sich. Es war so schön hier, sie war glücklich. Nach einigen Momenten war sie ganz zurück in der Realität. Sie streckte sich und schaute aus dem Fenster, von Osten drang vorsichtig der erste Glanz über das Meer. Mutter war gewiss schon in der Fabrik, Vater war von der Nachtschicht zurück, schlief fest im alten Ehebett. Ihre Brüder würden erst in einer Stunde aufwachen. Bis dahin hatte sie Zeit. Sie kletterte aus dem Bett und tauschte das Nachthemd gegen ihr rotes Sommerkleid, das über der Stuhllehne hing. Vorsichtig lief sie um das Bett ihrer Brüder herum. Sie sah die Silhouetten der beiden hinter der Finsternis, ihre dunklen Köpfe, die sie jeden Morgen kämmte, die sie wusch und streichelte. Sie lagen ruhig, für eine Stunde würde sie sich hinausschleichen können, bevor sie das Frühstück machen müsste. Hinaus an den Strand. Es war der schönste Moment des Tages. Nur sie und der Sonnenaufgang. Nur sie und ihre Träume. Leise öffnete sie die Tür, schlich auf den Flur, vorbei an der kleinen Küche und am Schlafzimmer der Eltern, roch den Duft von Paprika und Tomaten, der immer in der Luft hing. Das sanfte Schnarchen ihres Vaters beruhigte  1/12